Das Musiktheater im Revier präsentiert die großartig inszenierte Oper „Innocence“ von Kaija Saariaho als deutsche Uraufführung. Es ist erst die zweite Inszenierung des Stoffes überhaupt. Die Regie dieses Opern-Thrillers in fünf Akten führte Elisabeth Stöppler. Wir leben in einer immer unverständlicheren Welt. Das Verhalten unserer Mitmenschen entwickelt sich immer fragwürdiger. Kaija Saariaho widmet sich hier dem Thema der Gewalt. Wie kommt es dazu, dass Menschen Amok laufen und wild um sich schießen? Welche Traumata entstehen bei den Angehörigen, welche bei den Überlebenden? Es geht um Schuld und die Frage, ob sie verjährbar ist? Vor etwa zehn Jahren erschoss ein Amokläufer an einer Schule in Helsinki einen Lehrer und neun Schüler. Der Täter kam in eine psychiatrische Klinik. Die Oper spinnt dieses Thema weiter. Kurz bevor sein Adoptiv-Bruder (Khanyiso Gwenxane) heiratet, wird der Täter freigelassen. Es droht sein Besuch bei der Hochzeitsfeier, eine Katastrophe, denn die Braut (Margot Genet) weiß nichts von der tragischen Familiengeschichte. Soll man es ihr erzählen? So richtig üppig ist die Hochzeit jedenfalls nicht. Nur ein befreundeter Pfarrer (Philipp Kranjc) ist als Externer zu Gast. Er traut das Paar. Ansonsten merkt man der Hochzeitsgesellschaft die subtile Anspannung an. Wie ein Setzkasten kommt die Bühne daher. Auf zwei Ebene verteilen sich die beiden Stränge. Oben wird geheiratet, unten verarbeitet man die Trauer. Gemeinsam fragen sie nach der Schuld, entdecken die Geschichten hinter den Personen. Das Gewissen plagt sie mehr und mehr. Langsam nähert man sich immer mehr an, kommt zusammen. Der Setzkasten fährt dabei 14 m ganz langsam nach hinten, gibt der Bühne Raum. So langsam wird der Chor immer präsenter, sitzend auf einer Tribüne auf der Bühne. Wie in einer griechischen Tragödie kommentiert er ganz fein und sensibel die Handlung durch leisen Gesang oder Laute. Das Chorwerk Ruhr begleitet ganz wunderbar den Abend zu über 50%, immer an der Seite der Betroffenen. Da sich stets viele Akteure auf der Bühne befinden, werden die gerade agierenden Figuren häufig durch Licht-Spots in Szene gesetzt. Durch die nach hinten fahrende Bühne ist die Beleuchtung besonders schwierig zu gestalten. Ganz alltagstauglich kommen die Kostüme daher. Das gleiche Schicksal könnte morgen an einer Schule in Gelsenkirchen oder irgendwo anders passieren, ein zeitloses Thema. Musikalisch sind es sehr ungewohnte Töne für Operngänger, typisch finnisch. Die Partitur erinnert an eine Klanginstallation. Sie verschmilzt perfekt mit dem Chor und der Geschichte auf der Bühne, unterstützt die Emotionen. Aus sehr dosiert und zurückhaltend wird gegen Ende manchmal ein voluminöser Sound. Die Partitur fächert sich auf. Der Finne Valtteri Rauhalammi dirigiert die Neue Philharmonie Westfalen ausgezeichnet. Das Orchester stellt sich nicht in den Vordergrund. Die Auswahl der SängerInnen war eine echte Herausforderung. In neun Sprachen unterhalten sich die Figuren, darunter Deutsch, Englisch, Spanisch, Rumänisch, Griechisch, Schwedisch und Französisch oder Finnisch. Teils mussten Sänger eine Sprache erlernen, teils hat man Muttersprachler gesucht. Hanna Dóra Sturludóttir als die Mutter von einer Schülerin überzeugt auf ganzer Linie. Noch besser und beim Finale der Premiere mit dem meisten Applaus bedacht wurde Erika Hammarberg aus Helsinki, die die Rolle der erschossenen Schülerin Markéta großartig und extrem berührend singt. Sie ist jung und erstmals auf einer großen Opernbühne. Dabei bringt sie bewusst leicht folkloristische Töne mit nach Gelsenkirchen, keine typische Opernstimme, aber ganz hell und klar, beinahe engelsgleich. Auffällig ist, dass man mit dem Fortgang der Handlung immer weniger auf die jeweilige Sprache achtet. Die sehr spannende Geschichte erfordert die komplette Aufmerksamkeit, egal welche Sprache gesprochen oder gesungen wird. Teilweise sind auch Schauspieler mit auf der Bühne. Die deutschen Übertitel kann man mitlesen. Kann man als Angehöriger eines Opfers ein solches Ereignis jemals vergessen? Was macht das mit einem? Auch die überlebenden Schüler hinterfragen ihre Schuld. Sie haben sich versteckt oder sind weggelaufen, als die Gewalt plötzlich auf sie zukam, haben ihren erschossenen Kameraden nicht geholfen. Wie entsteht Gewalt? Was gab es für Gründe? Das Ende hat man sich an einem realen, positiven Beispiel abgeschaut. Ein palästinensischer Vater verlor brutal seinen Sohn bei einem israelischen Angriff. Statt Rache zu üben, rief er beide Seiten zum friedlichen Dialog auf. Auch in der Oper keimt am Ende Hoffnung auf, dass man den persönlichen Schmerz halbwegs überwinden kann. Den Amok-Lauf, als einen Akt der Gewalt, kann man nicht vergessen, aber das Miteinader von Opfer- und Täterseite vielleicht harmonischer gestalten. Müssen Hass, Rassismus oder Ausgrenzung wirklich sein? Diese Inszenierung ist ein echter Hochgenuss, ein Meisterwerk, bei dem man absolut konzentriert alles genau verfolgt, was auf der Bühne oder im Orchestergraben passiert. Große und bekannte deutsche Opernhäuser hätten dieses Werk sehr gerne in Deutschland uraufgeführt, das MiR in Gelsenkirchen war pfiffiger und bekam den Zuschlag. Das Vertrauen wurde nicht enttäuscht, die Erwartungen sogar noch übertroffen. Datum: 28. September 2024 musiktheater-im-revier.de |
Oper 'Innocence' im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen, Foto: Karl und Monika Forster nächstes Foto |